Berlin, Juni 2022 – Mehr als fünf Millionen Menschen haben seit Beginn der russischen Invasion die Ukraine verlassen, es ist die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem zweiten Weltkrieg. Im Hauptaufnahmeland Polen, aber auch in Deutschland, treffen die geflüchteten Menschen auf große, oft auch private Hilfsbereitschaft. Dennoch ist die Fluchtsituation mit großen psychischen und psychosozialen Belastungen verbunden. Welche Folgen das für die Betroffenen haben kann, welche Hilfsangebote jetzt nötig sind und was Helfer*innen beachten sollten erläutert eine Expertin auf der Pressekonferenz anlässlich des Deutschen Kongresses für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.
Die Pressekonferenz findet am 22. Juni 2022 als Hybridveranstaltung in Berlin statt. Anmeldelink für die Online-Pressekonferenz: https://attendee.gotowebinar.com/regis-ter/7569015378976718094
Die Menschen aus der Ukraine, die in den letzten Wochen und Monaten hier ankamen – in der großen Mehrheit Frauen und Kinder – haben zum Teil äußerst bedrohliche Situationen erlebt. „Hier gibt es sicherlich Unterschiede zwischen Menschen, die bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn geflohen sind und denen, die sich erst später zur Flucht entschlossen haben“, sagt Professorin Dr. med. Kerstin Weidner, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik am Universitätsklinikum Dresden. Während erstere häufig noch in privaten Haushalten untergekommen wären, erlebten letztere nicht nur mehr Kriegsgeschehen und militärische Angriffe, sondern seien am Zielort zudem oft in Masseneinrichtungen wie Messe- und Turnhallen untergebracht.
Gemeinsam haben alle Flüchtenden jedoch, dass sie aus ihrer sozialen Umgebung gerissen wurden, ihr Hab und Gut, ihre Wohnung, oft auch Familienangehörige zurücklassen mussten. „Die Menschen sind erschöpft, orientierungslos, ihre Widerstandskraft ist erst einmal verbraucht“, sagt Weidner. Gleichzeitig müssten sie jedoch eine enorme Anpassungsleistung erbringen, sich schlagartig auf eine neue Wirklichkeit mit anderen Lebensbedingungen, anderer Kultur und Sprache einstellen. „Das kann zu Krisen, Verlorenheitsgefühl und (Zukunfts-)Ängsten führen – eine Situation, in der sich psychische und psychosomatische Störungen verstärken oder auch neu entstehen können“, so Weidner.
Wie hoch der Bedarf an psychosozialer oder psychotherapeutischer Hilfe tatsächlich ist, ist nur schwer abzuschätzen. „Schätzungen gehen von einem Versorgungsbedarf von 30 Prozent aus“, sagt die Expertin. Es fehle jedoch ein bundesweites Konzept zur Identifizierung und Versorgung besonders gefährdeter oder traumatisierter Geflüchteter, auch seien vorhandene Strukturen überlastet. Wichtig sei daher, Ersthelfer*innen dabei zu unterstützen, einen dringenden psychosozialen Versorgungsbedarf zu erkennen und die Betroffenen an geeignete Stellen weiter zu verweisen – etwa an Psychosoziale Zentren, Traumaambulanzen, Ambulanzen
in psychosomatischen oder psychiatrischen Kliniken oder internationale Praxen. Auch müsse es niedrigschwellige Beratungs- und Gesprächsangebote in Erstaufnahmeeinrichtungen geben. „Bei alldem darf es aber nicht zu einer Pathologisierung kommen“, betont Weidner – schließlich entwickelten nicht alle Geflüchteten eine Traumafolge- oder andere psychische Störung.
Auch bei der Aufnahme in Privathaushalten werden Geflüchtete wie Aufnehmende vor besondere Herausforderungen gestellt. „Beim Leben in einem gemeinsamen Haushalt zeigen sich rasch mögliche kulturelle Unterschiede in Bezug auf Kindererziehung, Ernährung, Umgang mit Strom, Wasser oder Nahrungsmitteln“, sagt Weidner. Aufgrund von sprachlichen Barrieren lasse sich vieles nicht unmittelbar klären oder erklären. Für die Aufnehmenden sei es wichtig, einerseits Toleranz zu zeigen, andererseits aber auch Grenzen für sich selbst zu setzen. Auch bei der Unterstützung gelte es, das richtige Maß zu finden: Hilfe sollte zwar angeboten werden, so Weidner, den Geflüchteten müsse die Entscheidung, was sie davon annehmen möchten, jedoch selbst überlassen werden. Nur dann könnten sie eigene Ressourcen
aktivieren und das für die psychische Gesundheit so wichtige Gefühl der Selbstwirksamkeit und Selbstständigkeit entwickeln.
Die Themen Krieg und Flucht nehmen seit einigen Jahren einen größeren Raum in unserer Gesellschaft ein. „Es ist wichtig, die Versorgungsstrukturen einschließlich Dolmetscherdiensten darauf nachhaltig anzupassen. Geflüchtete, Aufnehmende, Helfer*innen, aber auch älteren Menschen, die aufgrund eigener Kriegserlebnisse Retraumatisierungen erleiden, brauchen niederschwellige Angebote“, sagt Professorin Weidner. Möglichkeiten der Unterstützung für Geflüchtete sowie Helfer*innen und Aufnehmende diskutieren Expert*innen bei der Hybrid-Pressekonferenz anlässlich des Deutschen Kongresses für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am 22. Juni 2022. Der Kongress findet vom 22. bis 24. Juni 2022 in Berlin statt.
Bei Abdruck Beleg erbeten.
Terminhinweis:
Pressekonferenz anlässlich des Deutschen Kongresses für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Termin: Mittwoch, 22. Juni 2022, 14.30 bis 15.30 Uhr, hybrid
Vor Ort: Urania Berlin e.V., Saal Kleist, 1. OG, An der Urania 17, 10787 Berlin
Online (Anmeldung unter): https://attendee.gotowebinar.com/register/7569015378976718094
Kontakt für Journalist*innen:
Deutscher Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Pressestelle
Kerstin Ullrich, Katharina Kusserow, Janina Wetzstein
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Tel.: 0711 8931-641
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