Cancel Culture in der Medizin
In der Debatte um Long Covid und verwandte schwerere Erschöpfungssyndrome scheint es neuerdings ein Schmuddelkind zu geben, mit dem keiner spielen will: psychosomatische Ansätze. Wenn die Beschwerden, die Schmerzen, die schwere Erschöpfung und die Luftnot psychosomatisch bedingt sind, so lautet hier wohl die Annahme, dann hieße das ja so viel wie: Sie sind „nur“ psychisch, also quasi: „bloß eingebildet“. Damit aber werden die Leiden der Betroffenen in keinster Weise ernst genommen. Denn: Sie sind ja da, sie sind ja echt! Echte Leiden können nach dieser Logik nur jene sein, die voll auf biologische Faktoren, eine gestörte Immunantwort, ein krankhaft verändertes Gerinnungssytem oderwenigstens auf veränderte Gene zurückgeführt werden können.
Der Widerstand gegen die Anerkennung auch nur einfachster psychischer Einflüsse auf die Intensität und den Verlauf von Beschwerden ist nicht nur unter Betroffenen groß. Sondern auch unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich der Erforschung jener biologischen Faktoren verschrieben haben. Studien, die belegen, dass psychosoziale Risikofaktoren wie erhöhte Depressivität oder Vorbelastungen mit körperlichen und psychischen Beschwerden erheblichen Einfluss auf die Entstehung und den Verlauf von Long Covid und verwandten Syndromen haben, lassen sich trotz guter Qualität nur schwer publizieren. Manche Forschungsbeiräte gehen auf Nummer sicher und verhindern sogar die bloße Messung psychosozialer Beschwerden und Belastungen bei Long-Covid-Betroffenen – so geschehen und publik gemacht vor Kurzem in Großbritannien: Cancel Culture in der Wissenschaft.
Wer solche Debatten für nicht zielführend hält und einwendet, dass es in der Medizin doch eigentlich darauf ankomme, was heilt: Der hat recht. Doch erstaunlicherweise geht mit der Fixierung auf rein biologische Ursachen von Erschöpfungssymptomen bislang keinerlei evidenzbasierte, auf biologischen Faktoren fußende Therapie etwa mit Medikamenten einher – hier gibt es nur die (grundsätzlich immer berechtigte) Hoffnung auf weitere Forschung. Die vielen Belege dagegen, dass Psychotherapie bei schweren Erschöpfungs- und anderen Körperbeschwerdesyndromen direkt hilft und nicht nur bei begleitender Angst und Depressivität, werden mit heftigsten Mitteln abgewehrt. Aus der irregeleiteten Idee heraus, nachgewiesene Wirkung von Psychotherapie belege psychische Ursachen.
Woher kommt diese Blickverengung, dieses Einigeln im biologistischen Reduktionismus? Natürlich spiegelt sich hier zunächst etwas, das für die ganze Medizin bis heute charakteristisch ist: Sogar die WHO (und mit ihr viele Chefarzt-Sonntagsredner) propagieren zwar schon seit Jahrzehnten das bio-psycho-soziale Erklärungsmo dell in derMedizin, also die x-fach belegte Tatsache, dass bei allen und insbesondere bei chronischen Erkrankungen immer biologische, psychologische und soziale Faktoren bei Entstehung, Ausprägung und Verlauf zusammenwirken. Trotzdem ist der Mainstream medizinischer Forschung in Zeiten von Präzisionsmedizin, Genomics und KI mehr denn je einseitig auf die biologische Seite des Geschehens ausgerichtet. Das verstärkt die Tendenz, psychosoziale Faktoren als wissenschaftlich irrelevant anzusehen. Und liefert damit auch eine Steilvorlage, das Psychische am menschlichen Kranksein insgesamt zuvernachlässigen und zu stigmatisieren.
In der heftigen Abwehr einer möglichen psychosomatischen Perspektive auf körperliches Leiden äußert sich aber mehr als dieser allgemeine Bio-Bias, die einseitige Bevorzugung der biologischen Erklärungsfaktoren in der Medizin. Es steckt darin auch die Abwehr einer Vergangenheit, eines bis vor etwa 60 Jahren von der Psychosomatik tatsächlich häufig vertretenen, letztlich unhaltbaren Anspruchs: dass komplexe Krankheitsbilder mit schweren Körperbeschwerden rein psychischer Ursache sein können. Dieser spiegelbildliche Psycho-Bias ließ sich empirisch nie beweisen; teilt sich mit dem Bio-Bias die Verhaftung in einem dualistischen Entweder-Oder-Denken („psychisch oder organisch“), das schon seit Beginn der Neuzeit nicht neutral war. Die materialistische Seite, das Organische, wurde privilegiert, dem Geistigen, der Psyche, nur sekundären Status gegeben. Das förderte die naturwissenschaftliche Seite der Medizin, trug aber bis heute zum Verkümmern der geisteswissenschaftlichen Komponente der Humanmedizin bei.
Weniger bekannt als dieser Umstand sind aber die Schwachstellen auch des bio-psycho-sozialen Medizinmodells. Werden nämlich, wie so oft in der Praxis, die einzelnen Faktoren einfach addiert, also bio (etwa Immunstörung) plus psycho (zum Beispiel depressives Erleben) plus sozio (vielleicht Armut), statt sie konzeptuell wirklich integrativ auf ein und denselben krankenMenschen zu beziehen, bleibt das Modell Teil des Problems und nicht der Lösung. Denn mit der Addition impliziert man auch die Fiktion, man könne psycho und sozio von bio lösen – und das öffnet den Biologisten die Tür, die beiden anderen Faktoren wegzulassen.
Wie sieht also heutige psychosomatischeMedizin aus, die sich auf ein integrierteres bio-psycho-soziales Modell stützt? Sie geht davon aus, dass das für das Kranksein zentrale Erleben belastender Körperbeschwerden immer und von Anfang an eine untrennbare Mischung darstellt, mit wechselnd starker Ausprägung seiner Anteile. Es ist ein Resultat einerseits von biologischen Faktoren, wie der Reizung von Schmerz- und anderen Körperrezeptoren etwa durch Entzündungen. Andererseits der Prägung durch Vorerfahrungen, Erwartungen und Kontexte, was den Umgang mit dem Körper angeht. Die Letzteren erzeugen Erwartungs- und Kontexteffekte, die, isoliert betrachtet, auch als positiv wirkende Placebo- und schädlich wirkende Nocebo-Phänomene beschrieben werden. Über diese vermitteln sich dann auch soziokulturelle Einflüsse auf das Beschwerdeerleben, immerhin unterscheiden sich Körperbeschwerdemuster und die zugehörigen subjektiven Erklärungsmodelle erheblich nicht nur in fernen Ländern, sondern auch innerhalb Europas – Deutschland ist zum Beispiel viel mehr als andere ein Rückenschmerz-Land. Dieses integriertere Verständnis gilt in den Fällen, in denen klar nachweisbare Organschäden als eine (!) Grundlage der Beschwerden nachweisbar sind, genauso wie in jenen, in denen das nicht so ist, wie meist bei Long Covid.
Es beruht auf einer Sicht der Gehirnfunktion, die in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnt: das Gehirn nicht als Computer, als passive Informationsverarbeitungsmaschine, sondern als aktives Vorhersageorgan. Imständigen Abgleich von erfahrungsgeprägten Vorhersagen mit den tatsächlichen Sinnesreizen entsteht Wahrnehmung der Außenwelt wie des Körpers – hartnäckige optische Illusionen zeigen die Bedeutung der Erwartung am Beispiel der visuellen Wahrnehmung. Die Gehirnaktivität ist so direkt eingebettet in die übergeordneten Ziele des Organismus: den Erhalt seiner Funktionsfähigkeit auch über eine möglichst vorhersagende Anpassung an seine Umwelt oder über deren aktive Prägung.
Diese ökumenische und durchaus biologische, aber nicht verengt biologistische Sicht macht verständlich, warum es im Umgang mit Körperbeschwerdesyndromen wie bei Long Covid so wichtig ist, nicht nur die notwendige Erforschung immunologischer und anderer biologischer Krankheitsfaktoren voranzutreiben. Genauso wichtig ist es, Vorerfahrungen, Erwartungen, das Selbsterleben insgesamt der Betroffenen zu erheben und klinisch wie forschend zu berücksichtigen. Dabei muss – auch sozial und medial – darauf geachtet werden, dass diese Erwartungen nicht unfundiert mit negativem Bias geprägt werden („Long Covid ist immer chronisch“, „gesteigerte Aktivierung schadet immer“) – denn derartige Prägungen beeinflussen, ja, verschlechtern direkt das Erleben der Körperbeschwerden, und sie erschweren therapeutische Fortschritte. Denn bei der Therapie geht es ja grundsätzlich darum, das belastende subjektive Erleben von Erschöpfung und Schmerzen und die damit einhergehende Funktionsbeeinträchtigung positiv zu beeinflussen. Wenn dazu künftig immunmodulierende Medikamente beitragen, ist das genauso gut, wie wenn das durch die psychotherapeutische Modifikation von Erwartungen und Gefühlen gelingt.
Das sind dann alles – einschließlich hier noch unerwähnter sozialer Faktoren – Einzelkomponenten in einem Erklärungs- und Therapienetzwerk, kein einzelner Faktor ist die Ursache oder die eine Therapie. Der Psychosomatiker Alexander Mitscherlich hatte von dem Ziel gesprochen, eine neue geschichtliche Biologie zu entwerfen und auf die Krücken zweier getrennter (psychischer und physiologischer) Regelungskreise zu verzichten. Die moderne psychosomatische Medizin ist, mit Teilen der Neurowissenschaften und der Psychologie als Partner, auf dem wahrhaft „humanmedizinischen“ Weg dorthin schon weiter als andere Bereiche der Medizin – das sollte kein Grund sein, sie in die Schmuddelecke schieben zu wollen. Wir sollten stattdessen gemeinsam und ohne Scheuklappen nach den besten Wegen suchen, den zum Teil schwerst betroffenen Patienten und Patientinnen zu helfen.
Peter Henningsen ist Direktor der Klinik für PsychosomatischeMedizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Rechts der Isar der Technischen Universität München.