Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 2025 Jg. 71, Heft 1
Editorial
Beziehungen in der Krise – Aufbruch
Claas Lahmann
Psychosomatische Medizin lebt von Beziehungen – der therapeutischen Beziehung
zwischen Therapeut:in und Patient:in, der Verflechtung von Körper und Psyche, den
Wechselwirkungen zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und klinischer Praxis.
Die Arbeit in, an und mit Beziehungen bildet das Fundament unserer Arbeit, doch
diese geraten zunehmend unter Druck. Nicht nur im individuellen Erleben, sondern
auch auf gesellschaftlicher Ebene nehmen Phänomene wie Einsamkeit, Misstrauen
und Polarisierung immer mehr zu. Vor diesem Hintergrund stellt der diesjährige
Deutsche Psychosomatik-Kongress mit dem Thema „Beziehungen in der Krise –
Aufbruch“ einen zentralen Aspekt unserer Disziplin in den Fokus.
Wie beeinflussen soziale, interpersonelle und intrapsychische Krisen unsere Gesundheit?
Welche Möglichkeiten des Aufbruchs und der Neuausrichtung ergeben
sich in der therapeutischen Arbeit?Welche innovativen Ansätze können helfen, bestehende
Dynamiken zu durchbrechen? Das Kongressprogramm spiegelt diese Fragen
in vielfältiger Weise wider und zeigt wieder einmal, wie breit das Spektrum der
psychosomatischen Forschung und Praxis in diesem Bereich ist.
Diese Ausgabe der Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
enthält die 80 besten Abstracts der Vorträge und Symposien, die vom 12. bis 14.
März im Henry-Ford-Bau der Freien Universität Berlin präsentiert werden. Die Beiträge
decken eine beeindruckende Bandbreite an Themen ab: von theoretischen
Modellen bis zu empirischen Befunden, von etablierten therapeutischen Verfahren
bis zu innovativen Behandlungsansätzen. Sie machen deutlich, wie facettenreich das
Kongressthema ist und welche Bedeutung es für unser Fachgebiet hat.
Ergänzt wird durch den einzigen regulären Beitrag dieser Ausgabe von Meinolf
Peters und Tobias Becker. Dieser widmet sich derMentalisierungsfähigkeit älterer Patient:
innen mit psychischen Erkrankungen . Mentalisierung spielt in psychotherapeutischen
Prozessen eine zentrale Rolle.
Peters und Becker zeigen, dass ältere Patient:innen in bestimmten Bereichen Defizite
aufweisen, diese jedoch weniger stark ausgeprägt sind als bisher angenommen.
Interessanterweise beeinflussen diese Defizite die klinische Beurteilung durch Psychotherapeut:
innen stärker als vermutet. Die Autor:innen diskutieren, inwiefern selektive
Faktoren in der psychotherapeutischen Versorgung zu dieser Wahrnehmung
beitragen und warum eine Sensibilisierung für den Umgang mit mentalisierungsbezogenen
Einschränkungen im höheren Lebensalter notwendig ist.
Gerade im Kontext des Kongressthemas sind diese Befunde hochrelevant: In der
psychotherapeutischen Praxis begegnen uns immer wieder ältere Patient:innen, die
durch Verluste, Isolation oder gesundheitliche Einschränkungen mit besonderen
Beziehungsherausforderungen konfrontiert sind. Mentalisierungsfördernde Interventionen
könnten hier ein vielversprechender Weg sein, um den in der Arbeit mit
dieser Patient:innengruppe oft diagnostizierten Schwierigkeiten in der therapeutischen
Beziehung zu begegnen – und letztlich einen neuen Zugang zur eigenen biografischen
Krisenbewältigung zu eröffnen.
Der Deutsche Psychosomatik-Kongress 2025 wird viele dieser Aspekte aufgreifen,
intensiv diskutieren und wertvolle Impulse für die zukünftige Entwicklung unseres
Fachs setzen. Die hier versammelten Abstracts verdeutlichen eindrucksvoll,
dass sich die Psychosomatik in einer Phase des Umbruchs befindet: Von tiefenpsychologisch
fundierten Betrachtungen interpersoneller Konflikte über systemische
und neurobiologische Perspektiven bis hin zu technologiegestützten neuen Behandlungsansätzen
– unser Fachgebiet ist in Bewegung.
Krisen in Beziehungen sind nicht nur Herausforderungen, sondern immer auch
Einladungen zur Reflexion und Neuausrichtung. Genau hier setzt der Aufbruch an.
Ich wünsche Ihnen eine anregende und bereichernde Lektüre!
Ihr Claas Lahmann