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Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 2025 Jg. 71, Heft 2

Blick auf das große Ganze
24.06.2025
Bundesverband
Stephan Doering

Editorial

Blick auf das große Ganze

Stephan Doering

Das vorliegende Heft unserer Zeitschrift vereint fünf Beiträge die einen Makroblick
auf Aspekte der Epidemiologie, gesellschaftlicher und politischer Veränderungen und
deren Folge sowie der Versorgung betroffener gesellschaftlicher Gruppen werfen.

Am Beginn steht die Arbeit von Jedamzik et al. (2025), die Routinedaten der Kassenärztlichen
Bundevereinigung (KBV) zur Versorgung psychisch Erkrankter in Deutschland
aus den Jahren 2015 bis 2019 analysiert. Da die Strukturreform der Psychotherapierichtlinie
2017 erfolgte, konnten die Daten vor und nach Inkrafttreten der Reform zueinander
in Beziehung gesetzt werden. Die Ergebnisse der Analyse an enorm großen
Fallzahlen ermöglichen zahlreiche hochrelevante Erkenntnisse; insgesamt hat die Zahl
derer, die psychotherapeutische Leistungen erhalten haben von gut 1,7 Millionen im
Jahr 2015 auf knapp 2,3 Millionen im Jahr 2019 zugenommen, die Zahl der komplex
Erkrankten nahm überproportional zu. Vergleiche der Jahre vor versus nach der Strukturreform
bilden unter anderem ab, wie die neu geschaffene psychotherapeutische
Sprechstunde zunimmt und gegenläufig die probatorischen Sitzungen abnehmen.

Volz et al. (2025) konstruieren eine Kurzversion des OPD-Konfliktfragebogens –
ein durchaus versorgungsrelevantes Instrument, was schon die Datengewinnung
unter anderem im Rahmen der QVA-Studie (Qualitätsmerkmale und Versorgungsrelevanz
psychodynamischer Ausbildungsambulanzen) belegt. Aus der Langversion mit
66 Items wird eine 36 Item-Version gewonnen, wobei die Gesamtstichprobe über
5.000 stationäre und ambulante Patient:innen umfasst. Der neue OPD-KF36 stellt
eine attraktive Möglichkeit zur Screening-Diagnostik auf das Vorliegen spezifischer
neurotischer Konflikte dar.

Eine epidemiologische Studie zu den Langzeitfolgen des DDR-Unrechtsregimes
legen Frommer et al. (2025) vor. Es handelt sich um eine faszinierende und erschreckende
Zusammenfassung vorliegender empirischer Studien, politischer Aufarbeitung
und konzeptioneller Überlegungen zur Entstehung psychischer und psychosomatischer
Folgen multipler und vielgestaltiger Traumatisierung der die Menschen,
die in der DDR gelebt haben, ausgesetzt waren. Sowohl die traumatisierenden Einflüsse
als auch die psychischen, sozialen und psychosomatischen Folgen werden
dargestellt und erläutert. Schließlich werden die Konsequenzen für die Behandlung,
Rehabilitation, Begutachtung und Entschädigung Betroffener diskutiert. Eine gesundheitspolitisch
höchst relevante Aufklärungsarbeit, die hier geleistet wird.

Eichenberg (2015) liefert eine Literaturübersicht und konzeptionelle Überlegungen
zu einem relativ neuen Phänomen, der Social Media-Sucht. Diese Störung ist
noch nicht in den aktuellen Klassifikationsschemata enthalten und wurde erst –
nicht zuletzt durch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie befördert – empirisch
untersucht und konzeptualisiert. Die Autorin streicht die Notwendigkeit der
Definition und Anerkennung des Störungsbildes heraus, was in der Folge die Entwicklung
und empirische Überprüfung von spezifischen Behandlungsansätzen fördern
würde. Eichenberg verweist auf Daten, die darauf hinweisen, dass strukturelle
Defizite in Form von Bindungsstörungen und Mentalisierungsdefiziten die Entwicklung
von digitalen Süchten befördern könnten.

Am Schluss des Heftes steht eine weitere Übersichtsarbeit, die sich einem bisher
vernachlässigten Thema widmet, nämlich der Frage von Essstörungen im Leistungssport.
Esser-Seraphin et al. (2025) fokussieren die Differenzierung von pathologischen
Essverhalten auf der einen Seite und spezifisch verändertem Essverhalten, das
bei Leistungssportler:innen in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Disziplin auftreten
kann. Die Autor:innen entwickeln ein Modell, das dazu dient, gestörtes Essverhalten
bei Leistungssportler:innen adäquat zu erfassen. Dabei betonen sie, wie wichtig es
ist, die spezifischen Faktoren von disziplin-assoziierter Gewichtssensibilität, Leistungsdruck,
Körperbild sowie Einstellungen zum Training und Ermüdung zu berücksichtigen.
Wir erhalten hier ein äußerst hilfreiches Modell, das neue und adäquatere
Perspektiven für die Behandlung von Sportler:innen mit dem ihnen eigenen
Umgang mit Körper und Ernährung ermöglicht.

Es ist dies also ein recht politisches Heft geworden, das unseren psychosomatischpsychotherapeutischen
Blick auf einige Entwicklungen und Herausforderungen unserer
Zeit lenkt.

Literatur
Eichenberg, C. (2025). Social Media Sucht: Überblick zum Stand der Forschung. Z Psychosom
Med Psychother, 71, 178-194.
Esser-Seraphin, A. J., Geiger, S., Paslakis, G., Muehlbauer, T., Gradl-Dietsch,G., Seitz, J., Giel,
K., Striegel, H., Bäuerle, A., Teufel, M. (2025). Is disordered eating part of the game? A theoretical
model in elite sports. Z Psychosom Med Psychother, 71, 195-205.
Frommer, J., Kuruçelik, A., Schindler, C. P., Schoppe, F. (2025). Psychische und psychosomatische
Langzeitfolgen von politischen Traumatisierungen durch die DDR-Diktatur: Eine
Bilanz aus Klinik und Forschung. Z Psychosom Med Psychother, 71, 164-177.
Jedamzik, J., Kampling, H., Christoffer, A., Szardenings, C., Ramm, M., Friedrich, H.C., Kruse,
J., Heuft, G. (2025). Reform der Psychotherapie-Richtlinie 2017 – Wer behandelt wen
wie? – Ergebnisse der ES-RiP-Studie. Z Psychosom Med Psychother, 71, 118-139.
Volz, M., Henkel, M., Cropp, C., Spitzer, C., QVA-Arbeitsgruppe, Benecke, C. (2025). Entwicklung
und Validierung einer Kurzversion des OPD-Konfliktfragebogens (OPD-KF36).
Z Psychosom Med Psychother, 71, 140-157.

Stephan Doering, Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie, Medizinische Universität
Wien